
IMBERT
Col Agnel
Klappentext folgt!
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Leseprobe
Ein ehemaliger Mitarbeiter Imberts ruft diesen spätnachts an. Es wird dramatisch.
Imbert war gerade eingenickt, hatte bis spät aus dem Homeoffice heraus gearbeitet und im Anschluss seine täglichen Abendübungen absolviert. Mit deren Beendigung war er sozusagen aus der Dusche direkt und todmüde in sein Bett gefallen. Seine Katzen hatten versucht, auch einen Platz im Bett zu finden, waren aber nach einigen Minuten den Verlockungen der Nacht erlegen und hatten sich im Mondschein auf den Weg gemacht, ihre nächtliche Welt auf ein Neues zu erkunden.
Sein Telefon klingelte. Durchbrach die Stille der Nacht. Mit einem Klingelton, den Imbert mal vor langer Zeit für seinen engen Freund Trudeau in Nancy angelegt hatte. Und den er schließlich für dessen gesamte Abteilung verwendete. Es war der Telefonton aus der Serie ‹24› mit Kiefer Sutherland alias Jack Bauer.
Imbert nahm den Anruf an und stellte das Gespräch auf laut und legte es neben sich.
«Imbert? Auguste? Chef?», erklang es fragend aus dem Lautsprecher. Der Anrufer klang zögerlich. Oder sogar verzweifelt? Imbert erkannte dennoch sofort Hectors Stimme und sprach ihn an.
«Hector! Was kann ich jetzt mitten in der Nacht für Dich tun, was nicht auch morgen noch getan werden könnte?»
«Es gibt Dinge, die nicht an Uhrzeiten gebunden sind. Schicksal. Zufall. Krankheit.»
«Wer ist erkrankt? Oder sprichst Du von Deiner Verletzung? Wie geht es Mischy?», Imbert musste all seine geistige Kraft aufwenden, um sich halbwegs zu konzentrieren. Sein mentaler Akku war leer, er brauchte den Schlaf. So dringend. Seine Augen wollten erneut zufallen. Abschalten. Aber er spürte auch die unbeugbare Dringlichkeit in Hectors Worten.
«Ein Mann ohne Beine ist kein richtiger Mann», er sprach leise weiter, «180 Sekunden, ich weiß. Also lass mich bitte erklären …»
Imbert lauschte den Ausführungen. Hector war bei einer Zeugenübergabe an die Staatsanwaltschaft vor über einem Jahr in Gap von der Maschinenpistole eines Attentäters mit mehreren Kugeln im rechten Oberschenkel getroffen worden. Anfangs hatte es geheißen, das Bein müsse sofort amputiert werden. Es setzte aber eine Heilung ein, die diesen Schritt glücklicherweise überflüssig machte.
Er hatte den gerade angefangenen Job bei der IGPN in Gap hingeschmissen und war zur Investigationstruppe von Trudeau in Nancy gestoßen, um seiner neuen Liebe Mischy nah sein zu können. Die als Analystin für diese Sondereinheit arbeitete. Jetzt hatte Hector an diesem Vormittag in der Universität in Nancy erfahren, dass seine Blutwerte katastrophal waren und die Amputation in den nächsten Tagen anstehe. Und wahrscheinlich auch das andere Bein betroffen sei. Er hatte sich Gedanken gemacht, wie er seiner Liebe Mischy, die aufgrund einer Rückgratdeformation im Rollstuhl saß, noch gerecht werden könne.
«Wie sollen wir leben, um unseren Daseinszweck zu erfüllen? Wie soll ich meinen eigenen Weg gehen – wenn mir dazu die Beine und Füße fehlen? Wie soll ich mich um meine geliebte Mischy kümmern, wenn ich selbst der schlimmere Pflegefall werde?»
Imbert hatte ihn an diesem Punkt unterbrochen. Philosophierte.
«Warum ist überhaupt Etwas und nicht Nichts? Warum, lieber Hector, bist Du und nicht nicht? Warum genau gibt es Dich? Mag es etwa Dein Lebensweg sein, diese Herausforderung annehmen zu müssen?»
«Auguste. Scheisse. Ich kann es einfach nicht!», er schluchzte, «Ich habe Angst. Tierische Angst. Vor der OP. Hinterher nur noch als halber Mensch da im Bett zu liegen. Habe Angst, wie Mischy es aufnehmen würde. Habe Angst vor der sogenannten langwierigen Rekonvaleszenz. Als Krüppel. Habe Angst vor Phantomschmerzen. Habe Angst, dass in einem Jahr die Arme dran sind. Dass ich immer weniger werde.»
Er atmete tief ein und aus.
«Le temps, qui me reste! Ich bin enttäuscht, weil ich meinen Lebenssinn nicht mehr erreichen kann. Das macht mich verrückt, macht mich depressiv …»
«Kann es einen anderen Lebenssinn geben? Kann eine Umorientierung vielleicht sogar zu noch größeren Glücksgefühlen führen? Kann sich ein solcher Reset unerwartet als größerer Glücksfall herausstellen?»
«Auguste, Du weißt, ich kiffe oft. Weil ich ein eher depressiver Typ bin. Ich habe gelernt, meine Depressionen in den Griff zu kriegen und sie als Begleiter meines Lebens zu betrachten. Aber aktuell ist es eine neue Kraft, die mich in den Abgrund zieht.»
Imbert dachte fieberhaft nach. Er erkannte, wohin dieses Gespräch führen würde. Er erkannte auch die Ausweglosigkeit der Aussage. Die Scheinbare. Hatte er sich doch nach seinem heftigen Motorradunfall ähnliche Fragen gestellt. Und nutzte er doch auch den ein oder anderen Joint, um einfach mal abzuschalten. Aber ihm fielen nicht die notwendigen Worte ein, um Hector umzustimmen. Wenn es denn überhaupt wirksame und passendeWorte in so einer Situation gab.
«Hector, mein Freund. Wo genau bist Du? Sitzt Du auf dem Bogen einer zu hohen Brücke? Stehst Du am steilen Grat eines Gipfels, der Dich vom Abgrund trennt? Wo bist Du? Und warum redest Du mit mir? Und nicht mit Mischy?»
«Du bist er Einzige, der meinen wirren Gedankengängen folgen kann. Mischy kann das nicht. Mein Chef, Dein Freund, kann es auch, hat aber selbst Probleme genug. Viele andere sind diesen intellektuellen Fragen nicht gewachsen …»
«Es ist eigentlich nur die eine Frage, was Dich beherrscht! Dein positives ‹Ich› oder ist es Dein ‹Alter Ego›? Ist es die ekelhafte Fratze, die immer dann heischend um die Ecke gekrochen kommt, wenn Tragisches geschieht …»
«Es ist seit vielen Wochen diese Fratze. Sie hat mich komplett im Griff. Sie beherrscht mein Handeln. Mein Alter Ego hat das eigentliche ‹Ich› zerstört.»
«Du weißt schon, Alter Ego, ‹verus amicus … est … tamquam alter idem›, ‹ein wahrer Freund ist gleichsam ein zweites Selbst›, kann auch im Positiven betrachtet werden …»
«Ja, aber der Psychologe spricht doch eher vom Ego und Alter Ego als zwei miteinander in Widerspruch stehende Seiten einer gespaltenen Persönlichkeit.»
Imbert kam ein Gedanke.
«Möchtest Du von mir gedoppelt werden? Ich würde morgen früh direkt zur Verfügung stehen können. Bei Dir und mit Mischy zusammen», Hoffnung keimte in Imbert auf.
«Nein, mein Lieber. Ich wollte nur zum Ende hin mit einem vernünftigen Menschen reden. Sag Mischy, ich liebe sie und handele eben aus dieser Liebe heraus. Leb wohl.»
«Nein, Hector, nein!», Imbert schrie es in den Hörer. Hörte den Schuss. Hörte, wie ein Körper zu Boden fiel. Er atmete tief durch. Der symptomatische Knall der Pistole hatte alle Zweifel beseitigt. Die Glock 17, die Dienstpistole aller französischen Polizisten, hatte ihre Aufgabe erfüllt. Da konnte er sicher sein.